Glück auf, die Steiger kommen!
Schon seit frühester Jugend bin ich von dem Drang beseelt, immer dann wenn es zu langweilig, zu eintönig und zu vorhersehbar wird, einfach aus- oder umzusteigen.
Damals, zur Zeit meiner ersten Expeditionen, hieß das noch schlicht und unerklärlich – schwänzen!
War ziemlich risikofrei zu praktizieren und hatte in meinem Fall auch tatsächlich etwas mit aussteigen zu tun. Ich stieg kurz vor Unterrichtsbeginn einfach aus dem Fenster unseres im Erdgeschoss, des Martino-Katharineum, gelegenem Klassenraums, ließ alles stehen und liegen und war raus, raus aus Trott, Langweile und Willkür!
Krasser konnte ein um– bzw. aussteigen im Alter von 13 Jahren kaum sein.
Hier das muffige von Bürokraten und Menschenverwaltern regierte Klassenzimmer, dort der von Rockern und Hippies belebte Bohlweg und der Schlosspark der 70er Jahre in Braunschweig! Leichter konnte eine Entscheidung nicht fallen.
Der Preis dafür war anfänglich nur der Eintrag ins Klassenbuch, später dann der Schulverweis, sozusagen der Komplettausstieg!
Nun gut, ich stieg dann irgendwann wieder ein, in das Berufsleben, machte eine Ausbildung.
Stieg auf, machte Karriere, stieg wieder aus, stieg ab, stieg um, machte mich selbstständig (klingt irgendwie seltsam –war ich auch eigentlich immer), stieg wieder aus, um und wieder ein … das macht schon Spaß! Und befreit mitunter auch von unnützem Ballast!
Mein ureigenster, innerer Rhythmus führte mich fast schon in einer automatischen Fünf–Jahres–Taktung zu immer wieder auch ganz neuen Betätigungsfeldern.
Natürlich war kein Aus– oder Umstieg je wieder so locker zu machen, wie das Klettern aus dem Fenster.
Aber die Entscheidung tatsächlich meinem Leben immer wieder einen anderen Weg, einen neuen Sinn oder auch nur eine neue Aufgabe zu geben, fällt mir immer noch genauso leicht wie mit 13.
Schade ist nur, dass es mir nie wirklich gelungen ist, richtig auszusteigen. Immer bin ich doch letztlich diesem System untergeordnet und treu geblieben. Mal ganz weg, ganz raus, andere Kulturen, Sitten, Werte, Lebensformen, ganz andere Systeme, das hab ich nicht gebracht. Zu sehr bin ich hier verwurzelt.
Das schafft man eben auch nicht durch ein offenes Fenster.
Und das Risiko ist auch wesentlich größer. Letztlich bin ich also doch immer nur umgestiegen, innerhalb eines Systems, das mir die nötige Sicherheit geboten hat, um vieles einfach mal auszuprobieren. Das ist schon klasse.
Dessen sollte man sich durchaus bewusst sein und immer auch mal was riskieren, solange es noch geht. Solange man noch kann.
Die nächste Generation wird das müssen, die werden nicht gefragt, ob sie denn mal etwas Neues ausprobieren wollen, diese Flexibilität wird von denen schlicht erwartet, diese Risikobereitschaft ist jetzt schon Grundvoraussetzung für vermeintlichen beruflichen Aufstieg.
Glück auf, die Steiger kommen!
Aber, und das durfte ich an Weihnachten „erleben“, der Komplettausstieg ist in Zukunft dann doch wieder einfacher und fast risikofrei, zu praktizieren! (SUCHTGEFAHR!)
Mein ältester Sohn kam mit einer VR-Brille (Virtual Reality) und sagte: „Papa, das musst du mal machen, setzt mal auf, probier mal!“
Ja, und dann stieß mir mein Sohn mal wieder ein Fenster zu einer neuen Technik auf, die sich mir ohne meine Kinder niemals eröffnet hätte.
Und ich war weg, raus aus Trott und Langeweile! Schipperte zu orchestralen Klängen über den Hades, dockte im Weltall mal eben an einer Raumstation an, quatschte mit Alliens und lief durch Kraterlandschaften. Ganz neue Welten, endlich mal! Das ist wirklich irre!
Erschreckend war, dass ich scheinbar komplett weg gewesen sein muss, denn als ich die Brille absetzte, sagte mein Sohn:“ Gut, ne? Du hast so einen völlig gelösten Eindruck gemacht!“
Ja, ich war ausgestiegen, eingetaucht in eine ganz andere „Realität“ und meine Kinder haben mich dabei beobachtet. Und ich sah glücklich aus!
Sollte die nächste Kolumne nicht pünktlich erscheinen, guckt mal durchs Fenster in der Karl-Marx-Straße. Evtl. steh ich da, lächle beseelt und trage eine etwas überdimensionierte Ski-Brille!
Foto: Verena Meier

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